Baltische Quartette


Baltische Quartette 
von Dieter Osteneck  vorgetragen beim Treffen der Familienkartenspielesammler 2007 in Marburg.


 

Die seit Jahrhunderten privilegierte Stellung der Deutschen in Livland, den heutigen Staaten Estland und Lettland, in Bezug auf ihre deutsche Muttersprache, evangelische Konfession, Selbstverwaltung und wirtschaftliche Vormachstellung wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den russischen Panslawismus und das nationale Erwachen der Letten und Esten bedroht und ging mit dem Ende des 1. Weltkrieges verloren. Fortan lebten die Deutschen als eine fremde Nationalität unter einem Staatsvolk; der Rest ihrer Sonderstellung wurde immer mehr eingeschränkt.

In dieser Situation widmete zu Weihnachten 1925 der in Riga arbeitende Chemiker Edgar von Pickardt „der baltischen Jugend“ ein von Hermann Ußleber in Riga gedrucktes Baltisches Quartettspiel. Mit historischen Notizen von Dr.phil. K[arl] v.Löwis of Menar und Zeichnungen von S[iegfried] Bielenstein. (Kursive Texte sind immer der Vorlage entnommen.) Es erschien bei Jonck & Poliewsky in Riga zum Preis von Ls 3,60, entsprach also bei Portokosten für einen Inlandsbrief von 15 Centimes genau 24 normalen Briefen.

Die 48 Einzelkarten geben als schwarze Federzeichnungen im Format 47 x 47 mm Bauwerke aus insgesamt 29 verschiedenen Orten wieder; über die Hälfte (26) wird von den 5 bedeutendsten Städten eingenommen (Reval 9, Riga 8, Mitau 4, Narwa 3, Dorpat 2), während alle übrigen Namen nur ein einziges Mal auftauchen.

Die Verfasser haben also einen bestimmten Aspekt des „Baltischen“ ausgewählt, und mitverantwortlich dafür zeichnet der Herausgeber Edgar von Pickardt (1867-1958). Er war nach der Flucht von 1919 mit seinen beiden Söhnen erst 1924 wieder in die alte Heimat zurückgekehrt. Die ihnen von Deutschland her vertrauten Geographie-, Geschichts- und Literaturquartette veranlaßten ihn zu Hause wohl zur Herausgabe eines entsprechenden baltischen Quartettspieles, um die bedrohte deutsche Position zu stützen. Dabei kam ihm seine persönliche Bekanntschaft mit Siegfried Bielenstein  (1869-1949) zustatten, der in seinem Hause verkehrte und als Zeichenlehrer am Klassischen Gymnasium zu Riga seine Söhne unterrichtete.

Entscheidend für die Motivauswahl wird allerdings Karl von Löwis of Menar (1855-1930) gewesen sein. Der damalige Inspektor des Rigaschen Dommuseums kannte von seinen Forschungen zur Stadtkunde, Burgengeschichte und Kartographie die dargestellten Bauwerke und war so für die „historischen Notizen“ auch aus baugeschichtlicher Sicht Fachmann.

Nun hätten die Autoren ihr Spiel auch mit Fotos illustrieren können. Für mich besteht aber kein Zweifel daran, was Bielenstein als Pädagoge und Kunsterzieher dachte: Fotos vermitteln primär eine Information, werden als begleitende Illustration gesehen, während ein Spiel doch einen Aufforderungscharakter haben soll, und so besitzen die gezeichneten Darstellungen einen eminent pädagogischen Wert für das Quartettspiel(zeug).

Rund 25 Jahre nach dem Baltischen Quartettspiel wurde ein neues Baltisches Heimatquartett angezeigt, das „hervorragend geeignet ist, unseren Kindern die Heimat eindrucksvoll und lebendig zu machen“, wie damals die Baltischen Briefe schrieben. Diesmal waren Künstler und Herausgeber eine Person: Der Architekt und akademische Maler Otto Pirang (1895-1982) hatte das Quartett schon 1947 in Meldorf in wenigen Tagen für die Söhne einer befreundeten baltischen Dame geschaffen und ließ es später in Essen, minimal verkleinert, in Offset drucken. Die schwarzen Federzeichnungen auf grauem Karton wurden sodann von seiner Frau und ihm sparsamst weiß, rot und braun teilkoloriert und 1951/52 mit Hilfe der Baltischen Briefe in kurzer Zeit in einer Auflage von etwas mehr als 600 Exemplaren zum Preis von DM 3,- verkauft (Inlandbrief   DM -,20; Auslandsporto  DM -,30, so dass das Spiel 15 Auslandsbriefen entsprach.

In 15 unnummerierten Quartetten versucht Pirang, seine baltische Heimat aus seiner Sicht darzustellen. Als Architekt hätte ihm durchaus auch eine Perspektive wie die von Bielenstein/Löwis naheliegen können, doch sieht man sehr schnell, dass er den Begriff „Baltisch“ sehr viel weiter fasste. Wenn man einen kleinen Blick auf sein künstlerisches Schaffen wirft, wird das erklärlich: Von ihm stammen u.a. Porträts von Mitgliedern der Baltischen Bruderschaft aus dem Gefängnis (1935), die Erstürmung Rigas durch die Landeswehr (1939), der Kopf auf dem Landeswehralbum (1939) sowie eine Serie Umsiedlung in Bildern (1939/40), und das zeigt doch nur eine ständige politisch-historische Auseinandersetzung mit dem baltischen Schicksal, besonders mit Gegenwartsfragen.

Diesen umfassenden Sinn spürt man im gesamten Quartett. Im Gegensatz zu Bielenstein/Löwis wird er jedoch nicht verbal vermittelt, sondern spricht alleine aus den Zeichnungen. Dabei entstand Pirangs Quartett unter ungleich größeren Schwierigkeiten als das von Bielenstein/Löwis. 1947 waren ihm keine Originalquellen zugänglich, noch weniger war es ihm möglich, vor Ort zu zeichnen, aber nirgends handelt es sich um reine Phantasieprodukte. Dabei ist eine Abhängigkeit von dem Bielenstein/Löwisschen Spiel fast sicher auszuschließen: Sowohl Pirang als auch die Initiatorin des Spieles versichern glaubhaft, kein anderes baltisches Quartettspiel gekannt zu haben. So scheint es, als bräche Pirangs Erinnerung, zwar zeitlich fixiert, aber räumlich und thematisch schweifend, hier durch mit dem Anspruch, für andere als Gedächtnisstütze dienen zu wollen. Dargestellt ist dabei eine Welt, die es zum Zeitpunkt der Umsiedlung 1939 und erst recht 1947 nicht mehr gab, die dreifach, räumlich, zeitlich wie auch personal, in weiter Ferne zurücklag.

Was nun sollen diese beiden Quartettspiele den mit ihnen beschäftigten Kindern, für die sie erdacht waren, vermitteln?

Das Baltische Quartettspiel  von 1925 erweckt den Eindruck, die baltische Heimat der angesprochenen Jugendlichen sei primär bestimmt von Bauwerken ausgeprägt deutschen Charakters: Kirchen, Burgen, Schlösser, Herrensitze, Rats- und Gildehäuser, Bürgerbauten, entstanden über einen Zeitraum von mehr als 6 Jahrhunderten. Drei Quartette sind speziell Ruinen vorbehalten, was die wechselvolle Geschichte dieses Landes aufzeigen soll. Aber eben diese Geschichte ist von den Deutschen als der beherrschenden Macht in Stein verewigt worden. Dänen, Schweden, Polen, Russen haben zwar auf dieses Gebiet eingewirkt, aber an seinem Charakter haben sie nichts ändern können, genauso wenig wie die indigene Bevölkerung der Letten, Esten oder Kuren.

Auch aus den „Historischen Notizen“ spricht diese Einseitigkeit. Zugegeben: Die Bauwerke als steinerne Kulturdenkmäler sind geschickt ausgewählt und repräsentieren ein großes Spektrum vor allem städtisch orientierter Architektur. Auf diese alleine beziehen sich die Bildunterschriften – aus ihnen eine Gesamtübersicht über DAS Baltische gewinnen zu wollen, wäre verfehlt.

Aber: Eine solche Perspektive ist aus dem Zeitpunkt des Erscheinens des Quartetts zu erklären: 1925! Spätestens mit der Staatwerdung der Republiken Lettland und Estland war aus der einstmals führenden deutschen Bevölkerungsschicht nur eine Minderheit unter anderen geworden. Der Verlust der deutschen Verwaltungsautonomie, das bedrohte deutsche Bildungswesen, die nunmehrige Agrarreform – all das musste das deutsche Selbstverständnis empfindlich treffen. Was der deutschen Minorität dennoch blieb, waren die Zeugen ihrer Vergangenheit, die trotz der oftmaligen politischen Umwälzungen weiterhin Bestand hatten. An sie galt es also zu erinnern, sie sollten als Exempel hingestellt werden, ganz im Sinne von Carl Schirrens „Ausharren als Summe der Politik“.

Das Baltische Heimatquartett von Otto Pirang bestimmt schon mit den Wappen von Liv-, Est- und Kurland seinen historischen Ort. Es will die baltische Heimat vor der Zeit der Nationalstaaten Lettland und Estland umreißen, greift also auf die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurück, auch wenn Landeswehrführer und Schicksalswenden darüber hinausgreifen.

Auch Pirang sieht mit den Augen des Städters, speziell mit denen des Rigensers. Während jedoch bei Bielenstein/Löwis die 8 Rigabilder auf 7 verschiedene Quartette verteilt sind und unter Gruppenbegriffen wie Städtebilder, Kirchen, Burgen usw. eingeordnet erscheinen, arbeitet Pirang extra die Merkmale Rigas als der führenden Stadt des Baltikums heraus. Daneben stehen die Türme Rigas wie die von Reval (auch hier Kirchen und Befestigungsanlagen). Von seinen 14 abgebildeten Bauwerken sind nur 8 auch bei Bielenstein/Löwis zu finden. Ihm ist es demnach nicht um Meisterwerke der Architektur zu tun, sondern er will Charakteristika herausarbeiten. Ohne Zweifel gehören die Bauten dazu. Daneben aber gibt es auch das von der Geschichte im weitesten Sinne geprägte Land (Burgruinen), die Landschaft mit ihren Flüssen und natürlich die Menschen, die all dies bevölkern  (Volkstümliche Gestalten, Straßenhändler), spezielle Volksbräuche pflegen, hölzerne Kleinbauten und praktische Gegenstände benutzen und schließlich eine besondere Art des Essens und Trinkens kultivieren.

Hier wird versucht, das Leben möglichst in seiner Gesamtheit zu erfassen. Allerdings ist es die Welt des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die Idylle einer heilen Welt. Auch die Ruinen sind keine aktuelle Parallele zum zerstörten Deutschland 1947, sondern liebgewordene, vertraute Landschaftsstaffage. Die Menschen erscheinen nicht als Rivalen um die Macht, sondern als kauzige Typen, Originale, die in dieses Umfeld gehören wie – extrem – der Petrikirchturm, die Düna oder ein Allasch mit Krebsen.

Auch hier muß der Entstehungszeitpunkt des Quartetts berücksichtigt werden: 1947! Unmittelbar nach Umsiedlung, Flucht und einem entsetzlichen Krieg ist niemandem nach großen Worten zumute. Für einen Augenblick verdrängt man die Geschichte, die jahrelang so misshandelt worden war; man hütet sich vor historischen Parallelen und Interpretationen. Ist es verwunderlich, dass der Künstler in dieser Situation das eben Erlebte  verdrängt und sich lieber in die Welt seiner Kindheit flüchtet? Das mag in der besonderen Situation 1947 vielleicht tröstende Erinnerung sein – nicht Eskapismus, sondern Wertevermittlung, nicht Trauerarbeit, sondern Hilfe zur Gegenwartsbewältigung.

Anläßlich einer Gedächtnisausstellung zu Otto Pirangs 100. Geburtstag ließ sein Sohn  Fritz Pirang das Quartettspiel seines Vaters 1996 noch einmal in 200 Exemplaren nach-drucken, nachdem er etliche Karten nachgezeichnet und z.T. graphisch leicht geändert hatte. Diesmal kostete das Spiel DM 29,80 (was 27 Briefporti entspricht, also das prozentual gesehen teuerste baltische Quartett ist). Dafür bekam das Spiel auch offiziell seinen Namen und nannte den eigentlichen Autor nicht nur auf der Schachtel, sondern auch auf jeder Einzelkarte. Von Fritz Pirang stammt auch das „Titelwappen“, eine quodli-betartig erscheinende Addition von livländischem Greif, estländischen Löwen und dem Wappen Kurlands, aber das Ganze hat doch einen direkten und sehr realen Bezug zu Otto Pirang, denn es stellt das Wappen seiner studentischen Verbindung, der Fraternitas Baltica zu Riga, dar.

Da dieses Wappen auf allen Karten als Rückseite wiederkehrt, konnte der neue Heraus-geber auf das alte Quartett Wappen verzichten, `(genauso auf die 4 Schicksalswenden) und stattdessen Historische Gestalten und Wissenschaftler aufnehmen, die seinerzeit Otto Pirang nicht in die Druckauflage übernommen hatte – ihm waren die Personenähnlich-keiten zu gering. Und da diesmal auch das Format der Originalkarten beibehalten wurde, weichen also beide Druckauflagen von der gezeichneten Urfassung ab.

Ob man diese Deutschbaltische Heimatquartett allerdings noch als ein Spiel für Kinder ansehen kann, ist zu bezweifeln. Mir scheint viel eher eine gewisse Nostalgie mitzuschwingen; der ursprüngliche Aufforderungscharakter des Spieles, der direkte Gesprächsanlass – beides ist heute nicht mehr gegeben.

Und noch ein viertes Quartettspiel gilt es, hier vorzustellen. In den dreißiger Jahren, wohl zur Zeit der Wirtschaftskrise, zeichnete der Architekt und Maler Sigurd Becker  (1901-1973) in Riga ein Schwarzer-Peter-Spiel  mit 40+1 Karten, das für die Tätigkeiten des Notstandskomitees warb, welches als Glied der deutschen Fürsorgezentrale eine Art von karitativer Selbsthilfeorganisation darstellte.

Ob das Notstandskomitee oder die ihm übergeordnete Deutsche Volksgemeinschaft das Spiel in Auftrag gegeben hat oder ob es aus Beckers eigenem Antrieb entstand, weiß nicht einmal die Familie. Dort ist auch nicht bekannt, ob das Spiel wirklich gedruckt wurde, denn bei allen Familienangehörigen kursieren nur Fotoabzüge. – All dies erklärt auch, weshalb über Vertrieb, Preis oder Erfolg noch keine Aussagen zu treffen sind.

Auch sonst fällt das Beckersche Spiel gegenüber den anderen aus dem Rahmen, weil sich zum einen der Künstler in Initialen oder mit dem ganzen Namen selbst mitteilt, vor allem aber finden sich außer den Bildunterschriften mit ihrem Werbecharakter und gelegentlichen sprachlichen Besonderheiten gar keine „baltischen“ Bezüge. In dieser Form hätte das Spiel in der spezifischen Situation des bedrängten Deutschtums während der Zwischenkriegszeit durchaus auch in Danzig oder Graudenz erscheinen können. Stattdessen besitzt das Spiel ob seiner lustigen, karikaturistischen Gestaltung einen hohen Aufforderungscharakter, aber es fehlen ihm die wichtigen Ordnungskriterien für ein Quartettspiel (Nummerierung, Zählung, Gattungsbegriffe), um es überhaupt spielbar zu machen.

Sowohl das Quartett von Bielenstein/Löwis als auch das von Pirang sind für Kinder konzipiert. Wie aber nehmen Kinder heute die beiden Quartettspiele auf? Ich habe einer Gruppe von 12-14jährigen Gymnasiasten beide Spiele unvorbereitet und unkommentiert als Fächer vorgelegt, und dabei geschah etwas Merkwürdiges, aber Eindeutiges: Alle wandten sich spontan dem Bielenstein/Löwisschen Quartettspiel zu, sie sahen es sich an, nahmen es in die Hand und – legten es beiseite, um nach dem Pirangschen Spiel zu greifen. Einhelliger Kommentar zu Bielenstein/Löwis: „zu voll …, unübersichtlich …“; bei Pirang hieß es: „interessant …, schön …, was ist denn das? …“

Diese Reaktion scheint mir verständlich, denn die Karten von Bielenstein/Löwis weisen eher auf die Möglichkeit hin, sich ganz allein in aller Stille mit ihnen zu beschäftigen, sie zu  s t u d i e r e n. Demgegenüber kann man mit Pirangs Quartett  s p i e l e n . Während Bielenstein/Löwis eine Art von Zeigefingerpädagogik betreiben, prägen sich bei Pirang wesentliche Aussagen spielend-spielerisch ein.

Auch in einer anderen Hinsicht ist das Pirangsche Spiel gesellschaftsfördernder. Es wirft Fragen auf, ohne sie sogleich zu beantworten. Auf das Moment des eigenen Nachdenkens folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Frage an die Eltern, eben weil die Situation fragwürdig, d.h. der Frage würdig ist (vergessen wir nicht: Wir sind im Jahre 1925 bzw. 1947!). So kann man einem Kind in dem Augenblick Auskunft erteilen, da es danach verlangt, und diese dann auch kind-, sach- und situationsgemäß gestalten.

Baltische Quartettspiele, Spiele, direkt an spezielle Adressaten gerichtet, Spiele, denen ein didaktischer Auftrag anvertraut worden ist, Spiele, aus denen neben dieser Absicht auch eine ganz bestimmte Zeit spricht  –  das, wovon sie zeugen, gibt es heute nicht mehr; die Menschen, an die sie sich wandten, sind ihnen entwachsen.  Heute sind die Karten „nur“ noch kulturhistorische Denkmäler – aber kostbare Relikte einer vergangenen Zeit allemal.

Dieter Osteneck, Oktober 2007

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